Zwei Gesichter – Okt-Nov 2019

Liebe Gemeinde, liebe Schwestern und Brüder!

Der 9. Oktober 2019 hat die Menschen in unserem Land erschüttert.

81 Jahre nach der Reichsprogromnacht am 9. November 1938, versucht ein Rechtsterrorist in seinem Wahn aus Antisemitismus, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Menschenverachtung eine Synagoge in Halle/Saale am jüdischen Versöhnungsfest Jom Kippur zu stürmen, um ein Blutbad anzurichten. Als ihm das nicht gelingt, erschießt er zwei Menschen, die ihm begegnen.

In 2000 Jahren christlich – jüdischer Geschichte wurde den Juden in vielfacher Weise Unrecht, Verfolgungen, Raub, Mord und Totschlag zugefügt.

Wenn wir als Christen der unheilvollen Vergangenheit gedenken, bedrängt uns vor allem die Frage: Warum haben Christen dies getan, geschehen lassen oder zumindest geschwiegen – von wenigen Ausnahmen abgesehen?

Liebe Schwestern, liebe Brüder, im Römerbrief finden wir überraschende und fundamentale Aussagen zum Verhältnis von Juden und Christen. (Röm 11, 16-24) Paulus zeigt die Zusammengehörigkeit im Bild vom wilden und edlen Ölbaum. Christen dürfen sich wie Zweige verstehen, die auf einen alten Ölbaum, das Judentum, aufgepfropft wurden und von den Säften des alten Baumes, von der „Kraft seiner Wurzel“ leben.

Für Paulus ist klar: Das Judentum ist die lebendige Wurzel des Christentums. Das Alte/Erste Testament, der Glaube an den Einen Gott, den Schöpfer des Himmels und der Erde, die Auffassung von Menschen als dem Ebenbild Gottes, die zehn Gebote, die Psalmen, Teile der Liturgie und vieles mehr im christlichen Glauben stammt aus der Wurzel des Judentums.

Wäre es für Christen deshalb nicht angebracht, im Bekenntnis zu dem Juden Jesus von Nazareth, der alle Menschen und Völker der Welt mit dem Volk Gottes verbinden will, die bleibende Erwählung des jüdischen Volkes als Gottes Volk gelten zulassen und aus der Geschichte zu lernen, wohin Vorurteile und religiöser Fanatismus führen können?

Christen aller Konfessionen müssen erkennen, dass sie durch den Juden Jesus von Nazareth, den wir auch Christus nennen, in Gottes Bund mit seinem Volk hineingenommen sind, sie sollten ihn in ihrer Lehre nicht vereinnahmen, in dem sie seine ureigenste jüdische Lehrtradition vergessen.

Im Verhältnis von Juden und Christen, – eigentlich betrifft es das Verhältnis aller drei monotheistischen Weltreligionen Judentum, Christentum und Islam,- gibt es heute vieles aufzuarbeiten.

Das Christentum ist es sich selbst schuldig, diese Arbeit zu tun und darüber nachzudenken, weshalb die Menschenwürde solange und immer wieder mit Füßen getreten wurde und wird.

 

Ihr Diakon Roland Rybak